Kirche und Kunst – ein spannungsvolles Miteinander

Kirche und Kultur gehörten schon immer zusammen. Obwohl sich Musik und bildende Kunst längst von der Religion emanzipiert haben, inspiriert diese nach wie vor Künstlerinnen und Künstler. In vielen Kirchgemeinden finden regelmässig kulturelle Veranstaltungen statt.

Fresken in den Katakomben von Rom zeigen: Schon im 2. Jahrhundert drückten Christen ihre religiösen Überzeugungen künstlerisch aus. Darstellungen Christi am Kreuz oder als Weltenherrscher, Bilder der Jungfrau oder des Letzten Abendmahls gehören seitdem zum Repertoire von Künstlern aller Jahrhunderte. Schon von den allerersten Christen in Jerusalem wird berichtet, sie seien "täglich einmütig beieinander im Tempel" gewesen (Apg. 2,46) – um Gott mit Psalmengesang zu preisen. Seitdem gehört auch die Kirchenmusik zum künstlerischen Ausdruck des Christentums.

Architektur, Theater, Bildhauerei und Literatur, in den letzten Jahrhunderten Fotografie und Film sind weitere Möglichkeiten, Gott und Menschen künstlerisch anzusprechen, seine Fragen gegenüber Gott auszudrücken oder seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

Kunst gehört zum Menschsein wie der aufrechte Gang. Und stets – bis vor wenigen Jahrhunderten – war sie an die Religion geknüpft. Eines der ältesten Beispiele ist die 25'000-jährige "Venus von Willendorf", eine kleine Steinstatue, die wohl eine Fruchtbarkeitsgöttin darstellt. Da das Christentum – anders als etwa das Judentum oder der Islam – kein Verbot der Darstellung von Menschen oder von Gott kennt, haben Künstlerinnen und Künstler freie Hand, sich auszudrücken.

Erst im Zuge der Renaissance und des Humanismus entwickelte sich die Kunst auch unabhängig von der Religion und stellte sich in näherer Vergangenheit bisweilen sogar ausgesprochen gegen das Christentum oder die Religion im Allgemeinen.

Doch stets gab und gibt es auch Kunst, die sich als kritische, aber dennoch positive Begleitung des christlichen Glaubens versteht. In der Musik ist dies offensichtlich; besonders im Zuge von geistlichen Aufbrüchen entstehen regelmässig auch neue Formen des musikalischen Ausdrucks. Ein typisches Beispiel dafür sind etwa die Gesänge aus der ökumenischen Bruderschaft von Taizé. Doch auch andere Gebiete des kulturellen Schaffens beziehen sich oft auf den Glauben.

In verschiedenen Gemeinden der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn erhielt kulturelles Schaffen im vergangenen Jahrzehnt einen neuen Stellenwert. Die folgenden Beispiele sind nur ein Ausschnitt aus einem reichen Angebot im Kirchengebiet.

Erlach: Das Wort und viele Wörter

In der Kirchgemeinde Erlach kommen Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu Wort. In loser Folge machen sie sich Gedanken zu Texten aus der Bibel, Gedanken über das Leben, über Krieg und Frieden, über Gerechtigkeit und Ungleichheit, über Liebe und Gleichgültigkeit. Dabei wagten sie es, unorthodoxe Gedanken – im eigentlichen Sinn des Wortes – zu denken und zu sagen.

Wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf der Kanzel stehen, kann dies Menschen in die Kirche ziehen, die sonst zu den eher seltenen Gästen gehören. Doch das war nicht die Intention des damaligen Erlacher Gemeindepfarrers Matthias Zeindler, als er 2000 zur ersten Schriftsteller-Predigt einlud. "Es geht nicht um Originalität, mit welcher man für die Kirche wieder einmal etwas Aufmerksamkeit zu mobilisieren hofft", schreibt er im Nachwort zu dem Büchlein, in dem die schriftstellerischen Predigten gesammelt sind.

Vielmehr ging es darum, einen neuen, unverstellten Zugang zum Wort Gottes zu finden. Denn gerade Pfarrerinnen und Pfarrer stehen ja in der permanenten Gefahr, Gott als den Gegenstand ihrer Predigt allzu selbstverständlich zu nehmen und allzu sehr vorauszusetzen, dass sie ihn schon verstanden hätten. Für Matthias Zeindler sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller deshalb auch ein Korrektiv – eine Instanz, die genau hinschaut und genau formuliert, und so Predigerinnen und Prediger dazu herausfordert, dies ebenfalls zu tun. 

Wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller, mit ihrem speziell sensiblen Verhältnis zu den Wörtern, in der reformierten Kirche sprechen, die sich ja als "Kirche des Wortes" versteht, birgt dies Zündstoff. Denn Schriftsteller haben nicht die Aufgabe, zu repetieren, was die Zuhörerschaft hören will, sondern zu hinterfragen, zu provozieren, Grenzen zu verschieben. Genauso wie dies auch die Autoren der biblischen Bücher immer wieder getan hatten. Davon könnte auch die Kirche des 21. Jahrhunderts durchaus noch etwas lernen.

Huttwil: Kirche auf der Bühne

Petrus, Chloe und Hiob haben einiges gemeinsam: Nicht nur, dass sie alle Gestalten aus der Bibel sind, sondern auch, dass ihre Geschichten in den letzten Jahren im Oberaargau zu sehen waren. Insgesamt waren es sieben Kirchenspiele, welche von den Laienschauspielerinnen und -schauspielern auf die Bühne gebracht wurden.

Wie bringt man die Bibel näher zu den Menschen? Diese Frage hat sich der Huttwiler Pfarrer Simon Jenny immer wieder gestellt. Seine Antwort darauf heisst Theater, verbunden mit Musik und Tanz. Mehrere Dutzend Laien spielen in den Stücken von Walter J. Holenweger jeweils mit. Seit 2001 erzählen sie den Zuschauenden und –hörenden so von Dietrich Bonhoeffer und dessen Braut Maria von Wedenmeyer, von Hiob, von der Hoffnung auf eine neue Welt, oder von einer Wirtin aus dem Korinth des ersten Jahrhunderts, die Bibelfälschern auf die Spur kommt.

Ziel des Huttwiler Pfarrers Jenny ist allerdings nicht in erster Linie die perfekte Aufführung, sondern das Erleben des Inhalts. Nicht das Publikum steht im Zentrum, sondern die Schauspielenden selbst. Sein Ziel sei es, "Menschen aufzubauen", sagt er. Es sind nur wenige Professionelle, welche Schlüsselpositionen der Spiele besetzen; die meisten Beteiligten sind Laien. Die Hauptvoraussetzung fürs Mitmachen ist Freude am Spielen, Tanzen und Singen.

Viele der Beteiligten sind sonst nicht aktiv in der Kirchgemeinde engagiert. Doch beim Spielen, so hat Pfarrer Jenny beobachtet, provozierten die biblischen Geschichten plötzlich Fragen und Diskussionen über zentrale Themen des Lebens und des Glaubens. So würden christliche Inhalte und Werte auf natürliche Weise weitergegeben.

Ligerz: Schweigend in den Sonntag

Musik, Texte und Stille – die Zutaten, aus denen "Musik aus der Stille" in Ligerz besteht, sind im Grunde einfach. Doch sie machen, zusammen mit der speziellen Stimmung in der Ligerzer Kirche über dem Bielersee und ihrer Lage an einem jahrhundertealten Pilgerweg, aus der einfachen Feier jeweils einen besonderen Anlass.

Inspiriert wurden der Ligerzer Pfarrer Marc van Wijnkoop Lüthi und seine Frau Christine Lüthi bei ihrem Aufenthalt im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) im Jahr 2000. Die Musik verband die unterschiedlichen Kulturen in der multiethnischen Stadt ebenso wie die gemeinsame Stille und die mehrsprachige Lesung. Zurück am Bielersee, setzte das Ehepaar die Idee hier ab dem Jahr 2007 ebenfalls um; die Lage unmittelbar an der deutsch-französischen Sprachgrenze legte die Zweisprachigkeit nahe.

"Musik aus der Stille" fand wöchentlich am frühen Samstagabend statt. Die einfach gestaltete Feier dauert nicht länger als eine halbe Stunde. Sie besteht aus Musik, einer kurzen Textlesung und dazwischen Augenblicken des Schweigens. Weder ausschliesslich kulturell noch ausschliesslich religiös, helfen die Veranstaltungen, die Woche abzuschliessen und sich auf den bevorstehenden Sonntag einzustimmen. Die Teilnehmenden sind frei, den Inhalten den Sinn und die Deutung zu geben, die für sie im Zentrum steht.

Die Verantwortlichen geben bei der Gestaltung der Anlässe die Zügel bewusst aus der Hand; die für die Gestaltung mit Musik und Text verantwortlichen Personen haben nur wenige Auflagen: Der Ablauf ist jeweils gleich, die Feier ist stets zwei- oder mehrsprachig zu gestalten, und der Ökumene ist Rechnung zu tragen. Bei der Wahl der Musikstücke und der Auslese des Textes hingegen sind sie frei.

Bern: Grosse Gefühle im Kirchgemeindehaus

In gewisser Weise ist ein Kino ein sakraler Raum. Geschichten werden erzählt, die zentrale Punkte des menschlichen Lebens berühren: Leben und Tod, Liebe und Hass, Edelmut und Feigheit, Güte und Bosheit, Verletzung, Sehnsucht und Erfüllung. Das Halbdunkel des Saals blendet Störendes aus, alle Sinne sind auf das Geschehen auf der Leinwand fokussiert. Die Zuschauenden identifizieren mit den Protagonisten oder distanzieren sich von ihnen – und finden auf diese Weise Antworten auf Lebensthemen.

Das PaulusKino zeigt jeweils im Winterhalbjahr im Foyer des Kirchgemeindehauses der Berner Kirchgemeinde Paulus im Monatsrhythmus eine Reihe von Spielfilmen. Manchmal sind es Kassenschlager wie "Chocolat" oder "La Strada", oft aber auch unbekannte Filme, die nichtsdestotrotz grosse Geschichten erzählen. Anschliessend an die Vorführungen sind die Zuschauenden an die Kinobar eingeladen, um miteinander und gelegentlich mit dem Regisseur zu diskutieren.

Die Filme stehen über die Filmsaison weg jeweils unter einem Thema. Im Winter 2006/2007 war dies "Sehet und schmecket – Mahl und Gemeinschaft im Film", das (bei der Bearbeitung des Jahrzehntberichts) aktuelle Programm widmet sich unter dem Motto "Ausgang und Eingang, Anfang und Ende liegen bei dir, Herr" dem Entstehen und Vergehen. Der Eintritt ist frei, es wird jedoch eine Kollekte erhoben.

Mit dem PaulusKino will Pfarrerin Anita Masshardt über das Medium Film Menschen für Fragen des Lebens und des christlichen Glaubens interessieren und die Auseinandersetzung mit dem Thema des Films und im Bezug zum eigenen Leben provozieren. Und sie will Menschen zum Kontakt mit der Kirche einladen, die sonst kaum Berührungspunkte mit ihr haben.

Konolfingen: Dürrenmatt als Kirchenfenster

Kunst am Bau ist keine Erfindung unserer Tage. Spätestens seit der Zeit der Gotik werden Kirchenfenster mit Glasbildern versehen, denn keine andere Kunstgattung erreicht eine vergleichbare Brillanz der Farben. Die Kirchgemeinde Konolfingen wagte dabei etwas Besonderes: Ihr Kirchenfenster ist ein Bild des grossen Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt.

"Das Dorf brachte mich hervor", sagte Friedrich Dürrenmatt des Öfteren über Konolfingen, wo er aufgewachsen war. 2008 zollte ihm dieses Dorf Dank und Achtung, indem es sein Gemälde "Apokalypse II" als Glasgemälde in ein Fenster seiner Kirche setzte. Gestiftet wurde es von Dürrenmatts Wittwe Charlotte Kerr Dürrenmatt, ausgeführt hat es der Glasmaler Werner Weyhe.

Das Werk, das Dürrenmatt 1989, kurz vor seinem Tod, gemalt hat, ist in düsteren Farben gehalten, fast nur schwarz-weiss. Es zeigt einen Engel über einem Gräberfeld. Die Sargdeckel fliegen von den Särgen, und aus den Gräbern steigen die Toten empor – Auferstehung. Für das Konolfinger Kirchenfenster wurde das Werk etwas angepasst, sonst hätten die Seitenverhältnisse nicht gestimmt; das Kirchenfenster ist höher und schmaler als das Gemälde.

Dürrenmatt, der Atheist und Pfarrerssohn, verewigt in einem Kirchenfenster – passt das? Es passte jedenfalls nicht allen. Die einen fürchteten, dass Dürrenmatt fromm vereinnahmt würde; die anderen, dass die Kirche gewissermassen entweiht würde durch das Werk des Atheisten. Die Kirchgemeinde Konolfingen wehrte sich auf beide Seiten: Offenheit einerseits gegenüber einem Künstler, der sich zwar zum Atheismus bekannte, für den der christliche Glaube aber zeitlebens ein Thema war. Achtung auf der anderen Seite für die Überzeugung des Schriftstellers, dessen Werk in der Kirche dennoch willkommen ist.

Thomas Uhland